Georgiana Ancuta Ogrean, Dissertation, Fachbereich Physik der Universität Hamburg, 2014 :

"Röntgenbeobachtungen von verschmelzenden Galaxienhaufen"


"X-ray Observations of Merging Galaxy Clusters"



Schlagwörter: galaxy clusters, shocks, particle acceleration, intracluster medium, X-ray, XMM-Newton, Chandra, Suzaku
PACS : 98.65.Cw

Summary

Kurzfassung

Wenn Galaxienhaufen verschmelzen, werden Stoßwellen mit Machzahlen M < 5 im Intracluster-Medium (ICM) freigesetzt. Die Stoßwellen beschleunigen einen Teil der Teilchen des ICMs auf relativistische Energien, wodurch Synchrotronstrahlungsquellen mit stark abfallenden Energiespektra auf der Mpc-Skala entstehen, die man “Radiorelikte” nennt. Als Beschleunigungsmechanismus wurde ursprünglich das 'Standard diffusive shock acceleration'-Modell vorgeschlagen (DSA, Ensslin et al. 1998). Nach dem Standard-DSA-Modell werden die Teilchen durch Stoßwellen vom thermischen Gleichgewicht direkt auf relativistische Energien beschleunigt, und danach Strahlung im Radiowellenbereich emittieren. Die Vorhersagen des Standard-DSA-Modells sind Energiespektren die sich mit einem Potenzgesetz beschreiben lassen, das Abfallen des Spektralindex im Bereich hinter der Stoßwelle, Magnetfeldlinien senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Stoßwelle sowie die Ausstrahlung polarisierter Radiowellen. Unter den Annahmen dieses Modells kann die Machzahl der Stoßwelle mit dem Injektions-Spektralindex, ainj, in Verbindung gebracht werden durch M² = (2·ainj - 3)/(2·ainj + 1).

Die Beobachtungen einzelner Galaxienhaufen in denen Radiorelikte zu finden sind unterstützten die Hypothese des Standard-DSA-Modells (z.B. Bourdin et al., 2013; Giacintucci et al., 2008; van Weeren et al., 2010).

Ist das Standard-DSA-Modell korrekt, so wären folgende Sachverhalte im Röntgenbereich gegeben:

  1. Stoßwellen nach Verschmelzung von Galaxienhaufen würden immer zusammen mit Radiorelikten auftreten.
  2. Die Stoßwellen wären an dem äußeren Rand der Relikte zu finden.
  3. Der von einem Radiorelikt aufgespannte Bogen wäre genauso lang wie der der Stoßfront.
  4. Die Machzahl der Stoßwelle könnte sowohl im Röntgenbereich – durch Anwendung der Rankine-Hugoniot Bedingungen – als auch im Radiowellenbereich – durch den Injektions- Spektralindex – unabhängig voneinander gemessen werden.

In dieser Dissertation stelle ich Beobachtungen mit XMM-Newton, Chandra und Suzaku von Galaxienhaufen-Verschmelzungenen, in denen ein Radiorelikt existiert, vor. Das wissenschaftliche Ziel der Beobachtungen ist (i) Stoßwellen im Bereich der Radiorelikte zu finden, (ii) die Machzahlen der Stoßwellen zu messen, (iii) die Ausdehnung der Stoßfronten zu bestimmen, (iv) die Beziehung zwischen den Stoßfronten und den Radiorelikten zu untersuchen und (v) den Verschmelzungsprozess selbst, der die Stoßwelle ausgelöst und zur Entstehung des Radiorelikts geführt hat, zu studieren. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen sind ein erster Schritt zur Beantwortung einiger dringender Fragen zur Entstehung der Radiorelikte:

Sind alle Stoßwellen in Galaxienhaufen-Verschmelzungen von Radiorelikten umgeben?

Numerische Simulationen von Kang et al. (2007) legen nahe, dass die Effizienz des Standard- DSA-Modells bei schwachen Stoßwellen zu klein ist, um die in Radiorelikten beobachtete Helligkeit im Radiowellenbereich zu erklären. Stattdessen wird angenommen, dass die Radiorelikte durch Stoßwellen erzeugt werden die bereits hochenergetische Elektronen der kosmischen Strahlung weiter beschleunigen. Allerdings gab es bis vor wenigen Jahren keinerlei Beobachtung, die diese Hypothese stützen würde.

Die Ergebnisse dieser Dissertation und Ergebnisse von anderen Beobachtungen neueren Datums legen nahe, dass das Standard-DSA-Modell fundamentale Schwachstellen hat. Im Röntgenbereich hat man insbesondere folgendes herausgefunden:

1. In dem verschmelzenden Galaxienhaufen Abell 2146 wurden zwei Stoßwellen in den äußeren Bereichen des Haufens entdeckt, allerdings kann keine von beiden der diffusen Radiowellenstrahlung zugeordnet werden (Russell et al., 2011). In CIZA J2242.8+5301 sieht man zwei Relikte in den äußeren Bereichen des Clusters, und zu beiden gehören Stoßwellen (Akamatsu & Kawahara, 2013; Ogrean et al., 2013a,b). In den Gebieten hinter den Stoßwellen in CIZA J2242.8+5301 allerdings gibt es ein Paar schwacher innerer Stoßwellen, zu denen es keine passenden Relikte gibt. Mithilfe numerischer Simulationen konnten Ogrean et al. (2014b) zeigen, dass die inneren Stoßwellen durch eine gewaltige Relaxation der dunklen Materiekerne der an der Verschmelzung beteiligten Galaxienhaufen, die kurz nach dem Durchdringen des ersten Kerns auftritt, erklärt werden können. Dies ist die bisher einzige Beobachtung derartiger Stoßwellen in einem Galaxienhaufen.

2. In dem verschmelzenden Galaxienhaufen 1RXS J0603.3+4214, welcher drei Radiorelikte beherbergt (van Weeren et al., 2012b), wurde eine Stoßwelle nahe des größten und spektakulärsten Relikts gefunden. Allerdings ist die Stoßwelle deutlich versetzt gegenüber dem Relikt (Ogrean et al., 2013c).

3. In CIZA J2242.8+5301 und in 1RXS J0603.3+4214 wurden anhand von Beobachtungen der zwei größten Relikte im Radiowellenbereich Machzahlen von ~4 bestimmt. Allerdings ergeben Beobachtungen im Röntgenbereich mit XMM-Newton und Suzaku Machzahlen von lediglich ~2, was deutlich unter der Erwartung anhand des Injektions-Spektralindex im Standard-DSA-Modell liegt (Ogrean et al., 2013c, 2014b).

4. In dem verschmelzenden Galaxienhaufen ZwCl 2341.1+0000 ist der von der Stoßfront im südlichen Radiorelikt aufgespannte Bogen deutlich kleiner als der vom Relikt selbst aufgespannte (Ogrean et al., 2014a).

5. Desweiteren sind die Spektralindizes beider Radiorelikte in ZwCl 2341.1+0000 sehr flach, alpha>1 (van Weeren et al., 2009a). Überraschenderweise sind die im Röntgenbereich bestimmten Machzahlen der beiden Stoßwellen aber sehr klein, M ≤ 2 (Ogrean et al., 2014a).

6. Im Coma Cluster gibt es eine Stoßwelle mit einer Machzahl von ~2 im südwestlichen Relikt. Die Machzahl ist geringer als mithilfe des im Radiobereich gemessenen Spektralindex durch das Standard-DSA-Modell vorhergesagt. Dazu kommt, dass das Relikt nicht von einer nach außen propagierenden Stoßfront erzeugt wurde, sondern durch die Akkretion einer Galaxiengruppe entlang eines kosmischen Filaments (Ogrean & Brüggen, 2013).

Zusammengenommen sind diese Ergebnisse eine Herausforderung für das Standard DSAModell. Allerdings können komplizierte Geometrien, Magnetfelder oder Machzahl-Verteilungen herangezogen werden um einzelne Ergebnisse im Rahmen des Standard-DSA-Modells zu erklären. Statistische Untersuchungen der Korrelationen zwischen Radiorelikten und Stoßfronten sind unerlässlich um die Teilchenbeschleunigung durch Stoßwellen in verschmelzenden Galaxienhaufen zu verstehen. Vor kurzem vorgenommene Beobachtungen haben gezeigt, dass es mit langen und gerichteten Aufnahmen von Galaxienhaufen, die Radiorelikte beherbigen, mit den zur Zeit verfügbaren Röntgenteleskopen möglich ist, neue und unerwartete Resultate zu Tage zu fördern, trotz der Herausforderung die mit der Beobachtung der sehr schwachen Außenbereiche von Galaxienhaufen einhergeht. Beobachtungen mit NuSTAR im hochenergetischen Röntgenbereich (>=10 keV) bieten die Möglichkeit, die inverse Komptonstreuung des von der Schockwelle durchdrungenen Plasmas nahe des Radiorelikts aufzuzeigen. In Zukunft wird es das “Athena X-ray observatory” erlauben, die Bewegungen des Hauptteils des ICMs zu messen. Dies wird unser Verständnis der Dynamik von Stoßfronten, den Turbulenzen die sie im ICM hinterlassen und der Verschmelzungsszenarien die zur Entstehung der Radiorelikte führen, erheblich verbessern.

Im Radiowellenbereich kann man erwarten, dass sowohl die Fähigkeiten von LOFAR zur Messung im niedrigen Frequenzbereich als auch die ausgezeichnete Sensitivität des in Bälde in Betrieb gehenden Australian Square Kilometre Array Pathfinder (ASKAP) eine bedeutende Rolle darin spielen werden, die Anzahl der bekannten Radiorelikte deutlich zu erweitern (Nuza et al., 2012).

Zu guter Letzt ist es auch von Wichtigkeit, die Röntgen- und Radiowellendaten mit Beobachtungen in anderen Wellenlängenbereichen zu kombinieren, um den Einfluss dunkler Materie auf die ICM-Substruktur die von verschmelzenden Galaxienhaufen gebildet wird, die Verbindung zwischen den thermischen und nicht-thermischen Bestandteilen des ICM und den Einfluss der Verschmelzung auf die Entstehung von Sternen und auf die Entwicklung von Galaxien, zu verstehen.

Titel

Kurzfassung

Summary

When galaxy clusters collide, weak shocks with Mach numbers M < 5 are triggered in the ICM. The shocks accelerate part of the particle population to relativistic energies, forming steep-spectrum, Mpc-scale synchrotron sources known as “radio relics”. It was originally proposed that the mechanism of particle acceleration is standard diffusive shock acceleration (DSA, Ensslin et al., 1998). In the standard DSA model, particles are accelerated by shocks straight from the thermal pool into cosmic ray electrons emitting at radio frequencies. The standard DSA model predicts power-law spectra, a steepening of the spectral index in the downstream region of a shock, magnetic fields aligned perpendicularly to the moving direction of a shock, and polarized radio emission. Under the assumptions of this acceleration model, the Mach number of the shock can be related to the injection spectral index, a_inj, by M² = (2·ainj - 3)/(2·ainj + 1). Observations of some galaxy clusters that host radio relics support the standard DSA model (e.g. Bourdin et al., 2013; Giacintucci et al., 2008; van Weeren et al., 2010).

From an X-ray viewpoint, if the standard DSA model were correct, then:

  1. Merger shocks would be associated with radio relics.
  2. The shocks would coincide with the outer edge of the relics.
  3. The arc spanned by a radio relic would have exactly the same length as the arc spanned by the corresponding shock front.
  4. The Mach number of a merger shock could be independently measured from X-ray – using the Rankine-Hugoniot jump conditions – and from radio observations – based on the injection spectral index.

In this thesis, I presented results from XMM-Newton, Chandra, and Suzaku observations of four merging galaxy clusters that host radio relics. The observations were aimed to (i) detect shock fronts at the radio relics, (ii) measure the Mach number of the shocks, (iii) determine the extent of the shock fronts, (iv) study the connection between the shock fronts and the radio relics, and (v) study the merger event that triggered the shock fronts and led to the formation of the radio relics. The results of these observations represent a first step to begin answering some pressing questions about the origin of radio relics:

Numerical simulations by Kang et al. (2007) suggested that the efficiency of standard DSA at weak shocks is too low to explain the observed radio brightness of radio relics. Instead, they argued that radio relics trace shocks that re-accelerate pre-existing CR electrons. However, up until a couple of years ago, observational evidence for this hypothesis has been missing.

The results presented in this thesis, as well as other recent observational results, suggest possible fundamental problems with the standard DSA model. In particular, from an X-ray perspective, it was found that:

1. In the merging cluster Abell 2146, two shocks are detected in X-rays in the cluster outskirts, yet none of them is associated with diffuse radio emission (Russell et al., 2011). In CIZA J2242.8+5301, two relics are seen in the cluster outskirts, and both of them are associated with shocks (Akamatsu & Kawahara, 2013; Ogrean et al., 2013a,b). However, in the downstream regions of the shocks in CIZA J2242.8+5301, there is a pair of weak inner shocks with no corresponding relic emission (Ogrean et al., 2014b). Using numerical simulations, Ogrean et al. (2014b) have shown that the inner shocks can be explained by the violent relaxation of the dark matter cores of the clusters involved in the merger, seen soon after first-core passage – it is the only instance of such shocks observed in a galaxy cluster.

2. In the merging cluster 1RXS J0603.3+4214, which harbors three radio relics (van Weeren et al., 2012b), a shock was revealed near the largest, most spectacular relic. However, the shock is significantly spatially offset from the relic (Ogrean et al., 2013c).

3. In CIZA J2242.8+5301 and in 1RXS J0603.3+4214, radio observations of the largest two relics predict Mach numbers of ~4 (van Weeren et al., 2010, 2012b). Yet, X-ray observations with XMM-Newton and Suzaku have measured Mach numbers of only ~2, significantly lower than expected from the injection spectral index under the assumptions of standard DSA (Ogrean et al., 2013c, 2014b).

4. In the merging cluster ZwCl 2341.1+0000, the arc spanned by the shock front at the southern radio relic is significantly shorter than the arc spanned by the relic (Ogrean et al., 2014a).

5. Also in ZwCl 2341.1+0000, the spectral indices of both radio relics are very flat, alpha > 1 (van Weeren et al., 2009a). Surprisingly, however, the Mach numbers of the two shocks detected in X-ray at the radio relics are very low, M ≤ 2 (Ogrean et al., 2014a).

6. In the Coma cluster, there is a shock of Mach number » 2 at the SW relic. The Mach number of the shock is lower than predicted from the radio spectral index under the assumptions of standard DSA. Moreover, the relic appears to have been created not by an outwards propagating shock front, but by the infall of a group of galaxies that accreted along a cosmic filament (Ogrean & Brüggen, 2013).

Taken on the whole, these results appear to pose challenges to the standard DSA model. However, complex geometries, magnetic fields, or Mach number distributions can be invoked to explain individual results in the framework of the standard DSA. Statistical studies of the correlations between radio relics and shock fronts are crucial to understanding shock acceleration in merging clusters. Recent observations have shown that deep pointed exposures of relic clusters with the currently available X-ray satellites are capable to reveal new and unexpected results, despite the challenges associated with observing the very faint cluster outskirts. Observations with NuSTAR in the high-energy X-ray band (>=10 keV) have the potential to reveal inverse Compton emission from the shocked plasma near the radio relics. In the future, the advent of the Athena X-ray observatory will allow measuring the bulk motions of the ICM, which will consequently improve our understanding of the dynamics of shock fronts, of the turbulence they introduce in the ICM, and of the merger scenarios which lead to the formation of radio relics.

In the radio, LOFAR’s low frequency capabilities and the upcoming Australian Square Kilometre Array Pathfinder’s (ASKAP) excellent sensitivity are expected to play an essential role in dramatically increasing the number of known radio relics (Nuza et al., 2012).

Finally, it is also important to combine X-ray and radio data with observations at different wavelengths in order to understand the impact of dark matter on the ICM substructure formed by galaxy cluster merger, the connection between the thermal and the non-thermal components of the ICM, and the influence of mergers on star formation and galaxy evolution.